sich für ein neues leben, eine neue richtung und damit gegen das alte, das davor zu entscheiden, ist, wie sich von einem geliebten zu trennen, einem langjährigen partner, mit dem man sein leben über lange zeit geteilt hat. jeder lebt mit sich, anderen und seinem leben zusammen. mit seinen interessen und seiner arbeit, den sehnsüchten, träumen und ängsten. illusionen.
man wird nie man selbst, weil man nicht weiß, was das ist, man weiß nur, wenn man jemand anderes wird, anders beschließt sein zu wollen, werden zu müssen und sich von seinem alten so-und-so-sein zu verabschieden. eine schöne metapher ist die von der schlangenhaut. ich stelle es mit sehr schön vor, sich tatsächlich und nicht nur phrasenhaft häuten zu können.
wenn man aber dann einmal, nach einer langen latenzphase, in der man an seinem entschluss - auch geheim vor sich selbst, dem eigenen präfrontalen kortex - gebrütet hat, sich abwendet und aufmacht, um sich durchs gestrüpp zu schlagen und einen neuen pfad auszutrampeln, merkt man erst, was man vermissen werden wird und was man an dem hatte, was man dann gehabt und verlassen haben wird. wie ein verwundetes reh liegt die alte haut da und schreit, wie vor der kastration oder dem bolzenschussgerät stehende ferkel, und die quiekende fieperei geht einem durch knochenmark und brustbein und schmerzt in den ohren. wie kann man dieses schutzbedürftige embryonenhafte halbgelebte stück lebenshaut zurücklassen? doch zugleich weiß man, dass man zur salzsäule erstarren und zur fossilierung verdammt sein wird, wenn man sich noch einmal umdreht, um zurückzuschauen, leichenschau und leichenfledderei an diesem geschundenen wesen zu betreiben, sich zu vergehen an der unbefleckten erinnerung, bevor man geht, sie hintergeht und weiß, was einem fortan abgehen wird. so geht man doch. zischelt und züngelt sich weiter durch die welt, spricht in fremden zungen und versucht nicht als handtasche zu enden.
manchmal erscheint es mir sehr vielversprechend, so friedfertig, mich mir als reinigungsfachkraft vorzustellen. immer wenn ich die putzfrauen - immer sind es frauen, wieso eigentlich? - sehe, die in jedem stockwerk am morgen die toiletten reinigen und schon schwitzen, in fremden zungen zueinander sprechen und bunte häute, aber alle die gleichen, angelegt haben, dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich jeden morgen an ihrer stelle diese arbeit täte bzw. mit ihnen, eine unter ihnen wäre. es wäre ein sehr regelhaftes leben, reinlich und schlicht, ich wüsste, was mich jeden tag erwartete, wie es zu tun wäre, wann es endete. auch irgendwie meditativ. die einzige frage, die ich mir gestellt habe, und deren negative beantwortung mich doch zögern lassen würde, ist die, ob es wohl erlaubt sei, hörbücher, hörspiele oder radio bei der arbeit zu hören? über einen mp3-spieler versteht sich. die anderen arbeiterInnen und vorbeikommenden personen sollen ja durch meine persönlichen vorlieben für das auditive nicht in ihrer akustischen privatssphäre beeinträchtig werden.
eine weitere option, die mir immer wieder attraktiv erschien, ist ein job bei IKEA oder einem vergleichbaren möbelunternehmen als möbelzusammenmonteur. ich habe - anscheinend im gegensatz zu vielen anderen menschen, wie ich aus ihren spöttelnden, hämischen bemerkungen schließe, wenn man auf die sb-baupläne zu sprechen kommt - immer großes vergnügen am ab- und aufbau von möbelstücken jeder art gehabt. auch hier besticht die tätigkeit durch ihre klar-konturierte umrissenheit, was arbeitsschritte, arbeitsumfang und arbeitsszeit betrifft. auch weiß man nachher, was man am tag geschafft hat, wenn zahlreiche montierte möbel vor einem stehen. überzeugende materialität, kein virtueller, digitaler schnickschnack auf platinenspeichern oder vergilbendes zu bündeln gebundenes papier auf staubigen regalbrettern in hintersten bereichsbibliotheksecken. dies ist nicht anti-intellektualistisch oder gar technikfeindlich gemeint, es ist nur mein momentan subjektiver hang zum material. (ein unangenehmer interim-bourgeoiser zug; ein lang verborgener, durch im grundsatz anti-kapitalistische lektüre im tiefsten innern eines jeden kulturmenschen herangezogener trieb, der irgendwann ausbricht, kurze zeit mit biojoghurts und dinkelbratlingen in den eingeweiden wurzeln zu schlagen sucht und dann aufgrund mangelnden "wasser-auf-die-mühlen-der-sozialdemokratie" durch die irritierte und mehr und mehr abgestoßene umwelt kümmerlich verdorrt und wie eine alte lästig gewordene topfpflanze auf dem bürofensterbrettm, von der man nicht mehr weiß und auch gar nicht wissen will, wer sie einem einmal geschenkt und dort hingestellt haben mag, im papierkorb neben der faz - von mir aus auch sz - vom morgen landet.)
die dritte möglichkeit - den drei mögliche wege sollte es "im westlichen kulturkreis" immer geben - wäre eine anstellung als möbelpacker und umzugshelfer. wieder kommen die schon angeführten argumente zum tragen: klare aufgabe, klarer umfang, klares ergebnis. außerdem wohnt dem umziehen immer dieses epische moment des aufbruchs inne. das jungfräuliche versprechen, die vergangenheit hinter sich zu lassen, das alte leben und das alte ich, es dort zu lassen, in den hallenden hohlräumen der verlassenen bleibe und woanders "völlig neu anzufangen". jeden tag könnte ich das gefühl haben, es beginne ein neues leben, und das ohne ohrenbetäubendes geschrei und plazentaresten unter den fingernägeln.
was allen diesen okkupationen gemeinsam ist, liegt auf der hand. das leben der anderen. ein unscheinbarer, professionell legitimierter und prozessierbarer voyeurismus. die möglichkeit in fremde wohnungen, leben und menschen einzudringen, gerüche und gerüchte aufzusaugen, abbauen, aufbauen, raustragen, reintragen, durchwischen, reinemachen. und am ende wäre es so, als sei ich gar nicht da gewesen.
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